Kritik an Verschwörungstheorien

Die Rückkehr des blinden Glaubens

Hans-Peter Zimmermann über Verschwörungstheorien, die Ohnmachtsphantasien des kleinen Mannes und den neuen Massenwahn…



Vieles deutet darauf hin, dass der institutionalisierte Glaube ausgedient hat. Immer mehr Menschen wenden sich von den etablierten Kirchen ab und lassen sich keine Märchen mehr erzählen von einem alten Mann mit Rauschebart, der seinen einzigen Sohn aus Liebe auf die Erde schickt, um ihn kreuzigen zu lassen. Gut so.
Nur leider scheint es, dass viele Menschen nicht ohne Märchen auskommen. Vor allem nicht ohne Märchen, die sie klein, unscheinbar und ohnmächtig erscheinen lassen gegenüber „denen da oben“, die alle Fäden in der Hand halten.


Argumentieren ist zwecklos!


Argumentieren ist, ähnlich wie bei den Zeugen Jehovas oder den Scientologen, auch bei Verschwörungstheoretikern völlig zwecklos. Sie führen ausnahmslos Websites von Einzelpersonen als Quellen an und berufen sich auf ein paar „namhafte Wissenschaftler“. Wenn man schließlich mit Argumenten kommt, heißt es irgendwann: „Ich weiß, was ich weiß.“ Fertig. Ende der Diskussion. Solches Verhalten hat große Ähnlichkeit mit dem Verteidigen eines Wahns; Psychiater können ein Lied davon singen. Davon später mehr.

Der Betreiber einer Schweizer Verschwörungsseite verriet mir, er sei von einer Radiostation eingeladen worden, mit dem Weltraum-Experten Bruno Stanek über die Mondlandung zu diskutieren.
„Ich habe abgelehnt“, meinte er.
„Warum?“ wollte ich wissen, „das wäre doch eine einmalige Gelegenheit gewesen, Deine Argumente unters Volk zu bringen.“
„Stanek hat seine Argumente, und ich habe meine“, lautete die Antwort, „er lässt sich nicht überzeugen, und ich lasse mich nicht überzeugen.“

Deutlicher kann man nicht sagen, dass wir hier nicht im Bereich des Wissens, sondern des Glaubens sind. Wie käme es sonst dazu, dass ein blutiger Laie, der, wie man sich auf seiner Homepage überzeugen kann, noch nicht einmal richtig Englisch kann (ein Video wird mit „Forbitten Healing“ angekündigt), meint, er wisse mehr über die Raumfahrt als jemand, der sich seit 50 Jahren ausschließlich damit beschäftigt?


Die Erde ist schließlich rund…


Ein Argument, das man von Verschwörungstheoretikern oft hört, ist das Folgende: „Wie war das denn damals im Mittelalter, als alle glaubten, die Erde sei eine Scheibe?“
Meine Antwort: „Diejenigen Menschen, die sich daran machten, das Gegenteil zu beweisen, waren durchs Band weg Wissenschaftler, die durch eigene Beobachtung herausgefunden hatten, dass da etwas nicht stimmen kann. Es handelte sich nicht um Buchhalter, Schauspieler und Chefsekretärinnen, die in ihrer Freizeit eine Handvoll James-Bond-Filme konsumiert und die Webseiten von ein paar Wichtigtuern und Psychopathen studiert hatten. Das ist der große Unterschied zu heute.


Ein Ausflug in die Psychopathologie


Ja, schon klar, die Psychiater machen auch mit bei der weltweiten Verschwörung. Lassen Sie mich trotzdem ein paar Begriffe klären:
Eine Psychose ist eine schwere psychische Störung mit Realitätsverlust. Realitätsverlust kann sich auf zwei Arten äußern: Halluzinationen und Wahn.

Halluzinationen sind Sinnestäuschungen; sie können bei allen fünf Sinnen auftreten und positiv oder negativ sein. Bei einer positiven Halluzination nimmt der Patient Dinge wahr, die nicht vorhanden sind, bei einer negativen Halluzination nimmt er Dinge nicht wahr, die für alle anderen wahrnehmbar sind.
Diese Form von Realitätsverlust kommt bei Verschwörungstheoretikern eher selten vor, zumindest nach meiner Erfahrung.

Beim Wahn geht es um eine die Lebensführung behindernde Überzeugung, an welcher der Patient trotz der Unvereinbarkeit mit der objektiv nachprüfbaren Realität unbeirrt festhält. Mit anderen Worten: Der Wahn bedarf keines Beweises, und somit endet jede Diskussion früher oder später mit dem Satz: „Ich weiß, was ich weiß.“

Typische Wahninhalte sind unter anderem

  • Der Verfolgungswahn (häufig bei paranoid-halluzinatorischer Schizophrenie)Der Patient ist der Überzeugung, dass er von irgend einer Organisation verfolgt wird. BND und CIA sind hier wohl die beliebtesten. Die hören dann aber nicht nur die Telefonate ab, sondern verfolgen einen in der U-Bahn, im Bus; ja, sie erdreisten sich sogar, sich nachts in die Wohnung des Patienten zu schleichen und ihn gegen seinen Willen zu hypnotisieren. Und der Beweis? Der liegt in den Gedanken, die der Patient am nächsten Morgen im Kopf hat.

  • Der Beziehungswahn (ebenfalls typisch für paranoide Schizophrenie)Der Betroffene bezieht Dinge und Ereignisse in seiner Umgebung auf sich, die nach rationalen Kriterien gar nichts mit ihm zu tun haben können; er glaubt beispielsweise, dass Fernsehnachrichten versteckte Botschaften an ihn persönlich enthalten.

  • Der Verarmungswahn (häufig bei schweren Depressionen)Die betroffene Person fühlt sich arm oder fürchtet, zu verarmen, obwohl ihre finanzielle Situation vollkommen unverändert ist und es keine Anhaltspunkte für eine mögliche Verschlechterung gibt.

  • Der Größenwahn (häufig bei Manien)Der Patient hält sich für eine wichtige politische oder religiöse Persönlichkeit, die Reinkarnation großer Persönlichkeiten, für einen Gott, Propheten oder Ähnliches, wie zum Beispiel einen Superhelden. Ähnlich ist auch der so genannte Sendungswahn („ich muss die Menschheit erlösen“).

  • Der Bestehlungswahn (häufig bei Alzheimer-Demenz)Der Patient ist der Überzeugung, dass nähere Angehörige ihn bestehlen.

  • Der Eifersuchtswahn (häufig bei Alkoholismus)Der Patient ist der festen Überzeugung, dass seine Partnerin fremdgeht, selbst dann, wenn ein Privatdetektiv ihm bestätigt, dass sie das Haus nur zum Einkaufen verlässt.


Folie à deux – folie à beaucoup?


Eine Sonderform des Wahns ist der induzierte oder symbiotische Wahn, früher „Folie à deux“ genannt. Hier übernimmt ein enger Angehöriger, der viel Zeit mit einem unter einer Wahnsymptomatik leidenden Menschen verbringt, die Wahnideen des Patienten. Durch soziale Isolierung und eine zunehmend als feindlich oder bedrohlich empfundene Umwelt wird das gemeinsame Wahnerleben verstärkt; der Wahn schafft Gemeinsamkeit und Kommunikation.


Aber es gibt doch namhafte Wissenschaftler…


Die Lebenszeitprävalenz von Krankheiten mit Realitätsverlust liegt bei ca. einer Person von 10’000. Dabei machen diese geistigen Störungen leider auch vor Forschern nicht Halt. Bei geschätzten 100 Millionen Wissenschaftlern weltweit (genaue Zahlen gibt es leider nicht) wären das ganze 10’000 Wissenschaftler mit Realitätsverlust. Und selbst wenn es nur ein Zehntel davon wären, es wären immer noch genügend, um die Verschwörungstheorien „wissenschaftlich“ zu untermauern.

Ich sehe jedoch noch eine zweite mögliche Erklärung. Manchmal handelt es sich bei den ins Feld geführten „namhaften“ Wissenschaftlern um pensionierte Mitarbeiter der amerikanischen Armee, der NASA oder sonst einer wichtigen Organisation. Vielleicht sollte man die Hintergründe dieser Menschen genauer untersuchen. Wie leicht kann es passieren, dass ein Mensch, der sich sein Leben lang übergangen und unbeachtet gefühlt hat, auf einmal seine große Chance sieht? Das Rezept: Man stelle eine abstruse Theorie auf. Sollte sie sich eines Tages zufällig als richtig herausstellen, wäre man der absolute Ober-Babo und könnte lauthals verkünden: „Ich hab’s euch ja gesagt!“ Wenn nicht, hat man nichts riskiert.


Anstelle von Argumenten ein Gedanken-Experiment


Doch, ein Gedanken-Experiment ist erlaubt; Albert Einstein hat ein Leben lang nichts anderes getan. Tatsache ist doch, dass kein einziger Verschwörungstheoretiker sich höchstpersönlich überzeugt hat, ob die Theorien stimmen. Sie berufen sich immer nur auf Webseiten und auf die Aussagen der bereits erwähnten „namhaften Wissenschaftler“.
Ich habe genau dasselbe Problem. Auch ich habe mich nicht persönlich vom Gegenteil überzeugt. Ob ein Laie wie ich dazu überhaupt die Gelegenheit hätte, sei dahingestellt.

Was wir jedoch alle anstellen können, sind Gedanken-Experimente.

Zum Thema Mondlandung könnten wir uns zum Beispiel folgende Fragen stellen:

  • Hätten die Sowjets damals nicht gemerkt, dass die Funksprüche nicht vom Mond kamen, sondern von einem TV-Studio in Amerika? Und hätten sie diese Information nicht sofort genutzt, um die Amerikaner lächerlich und den amerikanischen Vorsprung im Wettrennen um die Mondlandung zunichte zu machen?
  • Im Jahr 2014 landete eine chinesische Raumsonde auf dem Mond. Hätten die Chinesen nicht sofort einen Riesen-Rummel um die Tatsache gemacht, dass es dort keine Spuren von den Amerikanern gibt?
  • An der Mondlandung waren Tausende von Wissenschaftlern weltweit beteiligt. Unter anderem setzte die Apollo-11-Crew ein Sonnensegel des Physikalischen Instituts der Universität Bern ab, das anschließend von den Berner Forschern untersucht wurde. Warum haben die nicht publik gemacht, dass dieses Segel niemals auf dem Mond gewesen sein konnte?

Im übrigen gibt es keinen einzigen ernstzunehmenden Astrophysiker oder Weltraumtechniker, der an diese Verschwörungstheorie glaubt. Und sie ist ein Schlag ins Gesicht all der Spezialisten, die damals eine Vision verwirklicht haben.

Zum Thema Chemtrails könnte man sich fragen:

  • Was hätten die kommerziellen Airlines für ein Interesse, bei dieser Verschwörung mitzumachen?
  • Wenn das Flugbenzin ohne das Wissen der Airlines kontaminiert würde, was hätten die Benzinlieferanten für ein Interesse, hier mitzumachen?
  • Falls die Benzinlieferanten nichts davon wissen, wer schmuggelt das Zeug ins Benzin und wann? Und vor allem, wie?
  • Falls die ominösen Stoffe nicht übers Flugbenzin in die Atmosphäre gelangen (würde auch nicht gehen, weil sie durch die hohen Temperaturen vernichtet würden), sondern über spezielle Sprühvorrichtungen, wie bringt man sämtliche Luftfahrzeugtechniker der Welt dazu, nichts über diese Sprühvorrichtungen zu verraten?

Auch hier: Kein Mensch, der weiß, wie die moderne Luftfahrt funktioniert, nimmt diese Theorie ernst. Und nur weil ein paar durchgeknallte und frustrierte Piloten mit der gutgläubigen Bevölkerung ihre Scherze treiben und sich mit einem Schalter „Chemtrails aktivieren“ fotografieren lassen, ist das noch lange kein Grund zu glauben, dass heutzutage irgend ein Flugzeug über mehr als zehn Minuten unbemerkt irgend einen Luftraum betreten kann.

Zum Thema 911 gibt es ja die unterschiedlichsten Theorien. Einige sind der Meinung, die US-Regierung hätte von den bevorstehenden Anschlägen gewusst und bewusst nichts dagegen unternommen. Andere sind der Überzeugung, dass nicht Airliner, sondern militärische Drohnen in die WTC-Gebäude geflogen seien. Wieder andere sprechen von einer kontrollierten Sprengung der Türme. Ein Gedanken-Experiment passt hier zu jeder dieser Varianten:

  • Wenn Versicherungen schon bei Summen von ein paar Tausend Dollar eigene Detektive einsetzen, bevor sie eine Summe auszahlen, welche Versicherungsgesellschaft hätte ein Interesse daran, nach einer bloß oberflächlichen Untersuchung dem Eigentümer des World-Trade-Centers 3,2 Milliarden Dollar auszuzahlen?
  • Welche Versicherung der maroden Airlines wäre bereit, die hohen Schadensersatzsummen an die Hinterbliebenen zu zahlen, wenn sie nicht die Gewissheit hätten, dass deren Angehörige tatsächlich tot sind?

Im übrigen: Jeder Sprengexperte wird bestätigen, dass Häusersprengungen von unten nach oben geplant werden, dass das WTC jedoch von oben nach unten zusammengebrochen ist, und zwar genau von dort aus, wo die Flugzeuge reingeflogen sind. Und dass das Loch im Pentagon so klein war, lag daran, dass das Pentagon aus hartem Beton ist; das heißt, die Flügel konnten nicht, wie im World Trade Center, zuerst Glas durchschlagen, sondern wurden vom harten Beton abgerissen, bevor sie am Gebäude einen Abdruck hinterlassen haben. Wer die Serie Mayday– Alarm im Cockpit kennt, der weiß, wie genau es die Flugunfall-Untersuchungsbehörden nehmen und wie klein die Flugzeugteile bei entsprechendem Impact oftmals sind. Ein Flugzeugwrack in den Sümpfen Floridas im Jahr 1996 wurde zum Beispiel durch den harten Aufprall in kleinste Teile zerlegt; so etwas ist völlig normal. Nur für die Besserwisser von der Verschwörungsfront gelten die physikalischen Gesetze offenbar nicht.

Ich könnte beliebig fortfahren, aber sicher ist: Wenn es hier eine Verschwörung gäbe, dann müsste sie massiv sein. Dann hätten sich die Großmächte nicht etwa jahrelang gegenseitig bekämpft, sondern uns allen ein Riesen-Theater vorgespielt. Zu welchem Zweck? Der gewiefte Verschwörungs-Junkie zuckt hier mit den Schultern und sagt: „Ich weiß, was ich weiß.“ Und damit sind wir wieder bei der psychopathologischen Tatsache, dass der Wahn keines Beweises bedarf.
Schade, denn ich hatte mich so sehr über die Tatsache gefreut, dass der blinde Glaube langsam ausgedient hat. Und interessant auch, dass die Verschwörer sich immer noch fortpflanzen, obschon sie behaupten, dass die Chemtrails uns alle unfruchtbar machen sollen.


„Aber Hans-Peter, du bist doch sonst offen für alles!“


Als wir in einer Seminarpause über Verschwörungstheorien sprachen und ich feststellen musste, dass zwei Teilnehmer überzeugte Verschwörungstheoretiker waren, meinte einer: „Ich verstehe dich nicht. Du bist doch sonst auch offen für alle möglichen verrückten Sachen. Astrologie zum Beispiel, oder der Glaube an eine höhere Führung.“
Meine Antwort:
„Das ist ein Riesen-Unterschied. Dass Astrologie funktioniert, das glaube ich nicht, das weiß ich. Davon habe ich mich in den letzten vier Jahren persönlich überzeugt. Dass es eine höhere Führung gibt, weiß ich nicht; es ist eine Hypothese. Seit ich jedoch mit dieser Hypothese durchs Leben gehe, geht’s mir besser, und daher werde ich weiter damit arbeiten. Was du mir jedoch über Verschwörungstheorien erzählt hast, das hängt nur davon ab, welchen Webseiten du glaubst; das hat mit Wissen rein gar nichts zu tun.“


Was bringt’s dem Verschwörungs-Junkie?


Die abschließende Frage eines Menschen, der sich für die psychologischen Motive interessiert, sei erlaubt: „Was bringt es dem durchschnittlichen Laien-Verschwörungstheoretiker, wenn er Theorien verbreitet, die er nicht persönlich überprüft hat? Ich kann nur spekulieren, und meine Spekulationen sind keine Streicheleinheiten für die Betroffenen. Ich muss möglicherweise auch damit rechnen, dass ich ein paar Seminarkunden verliere. Aber was sage ich meinen Teilnehmern immer? Wie sollen Euch die passenden Menschen finden, wenn Ihr nicht authentisch kommuniziert?

Ich vermute:

  • dass der Verschwörungstheoretiker sich wichtig fühlt, wenn er mit anderen das Spielchen „Ich weiß was, was du nicht weißt“ spielen kann.

  • dass der Verschwörungs-Junkie, wie auch jeder Drogen-Junkie, es bequem findet, wenn er die Verantwortung für sein Leben von sich weisen kann. „Die da oben“ sind schuld, wenn es mir nicht gut geht. Ich selbst bin klein und ohnmächtig.

  • dass der Verschwörungs-Junkie, nachdem die Sowjets als Feindbild nicht mehr zur Verfügung stehen, ein neues Feindbild braucht. Und nachdem sich die Amerikaner einerseits nach dem zweiten Weltkrieg nicht immer vorteilhaft verhalten haben und andererseits eine Großmacht sind, über die wir Europäer mehr wissen als über die Chinesen oder die Russen, passen die hervorragend als neues Feindbild.


Mein Vorschlag


Die bereits erwähnte Schweizer Verschwörungsseite, deren URL ich aus Diskretionsgründen nicht nennen will, ist erbärmlich. Zu den einzelnen Theorien gibt es fast kein eigenes Textmaterial; die Seite besteht aus ein paar Verweisen zu irgendwelchen Amateurvideos, und einige Links führen sogar ins Leere. Unter dem Titel „Forbitten Health“ (Soll das vielleicht „verbissen“ heißen?) gibt es den Link zu einem Video von savenaturalhealth.eu, einer anonymen Website, die ebenfalls nur ein paar Links plus Google-Anzeigen enthält. Und so etwas will von Wissenschaftlern ernst genommen werden…

Mein Vorschlag an die Betreiber solcher Seiten: Hört auf, Euch lächerlich zu machen! Löscht das Zeug und zeigt den Menschen, dass sie, egal, was da draußen in der Welt passiert, ihrem Lebenszweck auf die Spur kommen und die Verantwortung für ihr Leben übernehmen sollen.