Hellinger-Kritik

Kritik an Bert Hellinger und seinen Jüngern


Bert Hellinger, geboren 1925, ist im September 2019 verstorben. Für einige Zeitgenossen wäre das ein Grund, keine Kritik mehr an ihm zu üben. Das ist für mich völlig unverständlich, denn der Tod eines Menschen rechtfertigt doch nicht sein Handeln zu Lebzeiten, sonst dürften wir an keiner einzigen historischen Figur Kritik üben. Außerdem lautet der Titel „Kritik an Bert Hellinger und seinen Jüngern„. Und von Letzteren gibt es einige, die noch am Leben sind. Daher folgt hier mein Original-Aufsatz aus dem Jahr 2015:



Kritik Bert Hellinger Familienaufstellung

Hans-Peter Zimmermanns Auffassung von systemischer Arbeit, und warum er sich nochmals traut, Kritik am „unfehlbaren“ Guru zu üben…


Eigentlich wollte ich nicht…


Eigentlich wollte ich das nicht mehr tun. Ich wollte keine Kritik mehr üben am „großen Bert Hellinger“. Ich habe das einmal in meinem Blog getan und später wieder gelöscht. Der Grund? Ich war der Meinung, dass Hellinger trotz vielen Dingen, die man ihm zur Last legen kann, ein paar sehr grundlegende und hilfreiche systemische Prinzipien entdeckt hat. Für diese bin ich ihm nach wie vor äußerst dankbar.

Ich wollte auch nicht ins selbe Horn stoßen wie ein paar Schmieren-Journalisten, die das Kind mit dem Bad ausschütten, sprich: die nicht nur Hellingers absolutistische Marotten kritisieren, sondern die ganze systemische Arbeit in Frage stellen, weil sie sich nie damit befasst haben und keinen blassen Dunst von psychotherapeutischer geschweige denn systemischer Arbeit haben.

Und der dritte Grund, warum ich mich in den letzten Jahren zurückgehalten habe, ist der, dass ich oft mit Hellinger-Schülern zu tun hatte, von denen ich viel gelernt habe.


Trotzdem… das Fass ist voll!


Doch diese Hellinger-Schüler haben leider nicht nur das Gute von Hellinger übernommen, sondern zum Teil auch seine unsäglichen Marotten. Und ich finde, es ist an der Zeit, diese Marotten hier einmal klar zu benennen.

Für die Freaks, die nicht müde werden, Kritiklosigkeit zu predigen, möchte ich betonen, dass ich mit meiner Kritik niemals den Menschen an sich verurteile, sondern lediglich sein Verhalten. Wenn mir eine Musik-CD nicht gefällt, werfe ich schließlich auch nicht den CD-Player in den Müll, oder?


Hellinger-Marotte Nr. 1 –
Die Wahrheit kennen wollen

Hellinger in einem Interview: „Der Vorgang des Wahrnehmens ist ein ungeheuer mutiger. Denn die Wahrheit, das Richtige, erscheint blitzartig, und zwar ganz kurz. Wenn ich irgendeinen Zweifel daran äußere, wenn ich mich frage, darf ich das?, verschwindet die Wahrnehmung“ („Psychologie heute“, Juni 1995, Seite 24)

Das ist wohl Hellingers Hauptmarotte: Es fehlt diesem Mann an Demut. Ein Mensch, der behauptet, die Wahrheit zu kennen, ist in meinen Augen ein gefährlicher Sektenführer. Man kann in diesem Fall nicht einmal auf den Spruch ausweichen „Wer heilt, hat recht“. Denn ob Hellinger heilt, weiß niemand, auch er nicht. Laut seinen eigenen Worten interessiert er sich nicht für Rückmeldungen von Klienten.

Auf dieser Marotte (wobei „Marotte“ in diesem Fall ein zu harmloses Wort ist) bauen all seine weiteren Marotten auf.

Hellinger-Marotte Nr. 2 –
die große Show abziehen

Einem Psychotherapeuten würde man verbieten, seine Therapien vor 500 oder 1000 Zuschauern durchzuführen. Oder zumindest würde man die Nase über ihn rümpfen. Aber da Hellinger sich nicht als Psychotherapeuten bezeichnet, darf er alles tun, was ihm Freude macht. Und Freude scheint ihm vor allem der Auftritt vor einem großen Publikum zu machen.

Natürlich hat er auch hier eine Begründung. In großen Sälen aufzutreten, entspricht nicht seinem Wunsch. Er stellt sich lediglich „in den Dienst von etwas Größerem“. Na bitte, das ist doch vergleichbar mit dem Evangelisten, der einfach nichts dafür kann, wenn Gott von ihm verlangt, das Evangelium an möglichst viele Menschen zu verkünden.
Da muss dann auch mal die Privatsphäre einer kleinen, unbedeutenden Klientin zurücktreten.

Hellinger-Marotte Nr. 3 –
Schuldgefühle verstärken

Dieses Kapitel wird etwas länger, und ich könnte es noch länger machen, wenn ich wollte. Es gibt so viele Beispiele Hellingerscher Arroganz, dass einem wirklich schlecht werden kann. Wohlverstanden, das sind nicht etwa Beispiele, die ich aus einem anonymen Forum gefischt habe (die nehme ich sowieso nicht ernst), sondern samt und sonders dokumentierte Fälle, sei es durch Videos, die Hellinger selbst produziert hat, oder durch Protokolle von Presseleuten.


Hellinger-Fall 1

***Zitat aus einem Hellinger-Video

Hellinger: Was ist deine Situation?

Klientin: Meine Situation. Ich bin mit 7 Monaten adoptiert worden. Hab das von meinen Adoptiveltern nicht gewusst, hab‘ auch meine leibliche Mutter gefunden und zwei Schwestern, und ein Bruder, der sich umgebracht hat, den hab‘ ich natürlich nicht kennengelernt. Meine Adoptiveltern sind tot. Und eigentlich habe ich das Gefühl, wenn ich so bin wie ich bin, müsste ich weg. Einfach weg. Mein Adoptivvater sagte sowieso öfter zu mir „Wenn du so und so bist, kommst du ins Heim“. Und ich fühle mich auch so bei meiner leiblichen Familie – schuldig. Ich
habe so das Gefühl, was ich auch tue, ist nicht richtig.

H: Kennst du den heiligen Franziskus?

K: Ja.

H: Ich hab eine Geschichte von ihm. Da war er da zu Hause. Dann wollte ihn jemand festhalten. Dann hat er sich nackig ausgezogen und ist zum Bischof unter dessen Mantel gegangen.

K: Zu wem?

H: Er ist zu etwas Größerem gegangen. Vom Kleineren zum Größeren.

K: Das verstehe ich nicht.

H: Ich fange nochmal von vorne an.

K: (Rennt weg) Nein, ich gehe.

H: Nein nein, komm hierher!

K: Ich möchte jetzt nicht mehr.

H: (Zum Publikum) Ganz schön gemein, wie sie mich behandelt hat. Und von oben herab. Wie wenn man in die Hand beißt, die sich ausstreckt.
(Hellinger sitzt lange still da und starrt vor sich hin)
In solchen Situationen erzähle ich mir selber eine Geschichte. Eine Trostgeschichte für Therapeuten. Da war mal ein gewisser Jesus. Von dem gehört? Der hat einem Mann gesagt „Steh‘ auf, nimm dein Bett und geh‘ nach Hause“. Und der hat gesagt „will ich nicht“. Da hat der Jesus nachgedacht. Dann hat er den Jüngern gesagt „ich weiß nicht, vielleicht gibt er Gott mehr Ehre als ich“.
Jetzt hab ich ihr schon zwei religiöse Geschichten erzählt. Kommst du nochmal her?
(Klientin kommt zurück)
Also, so schlimm bin ich doch nicht. Und du auch nicht, hm? Ich will eine gute Lösung für dich finden, hm? Vertraust du mir das?

K: Ja.

H: Was ist dein eigentliches Anliegen?

K: Mein eigentliches Anliegen war, dass ich mich nicht immer so schuldig fühlen möchte, wenn ich so bin, wie ich bin.

H: Na, so musst du dich eigentlich schon ein bisschen schuldig fühlen, hm?

K: Ich bin ja nicht immer so.

H: Weiß ich nicht, so. Bei manchen, wenn ich die Spitze des Eisbergs sehe, genügt es mir in der Regel. Was wäre eine gute Lösung für dich? Was bewegt dein Herz?

K: Ich weiß es nicht mehr. Ich fühle mich jetzt einfach unsicher.

***Ende Zitat Hellinger-Video

Hellinger stellt dann den toten Bruder der Klientin auf, stellt die Klientin zu ihm hin und lässt ihn sagen „jetzt könnte ich bleiben“.
Später muss die Klientin zu ihm sagen „Ich bleibe noch ein bisschen“.
Der Stellvertreter des Bruders glaubt ihr das nicht (das heißt, es deutet alles auf Suizidalität der Klientin hin), aber Hellinger betrachtet die Aufstellung als beendet.

Kommentar überflüssig, oder? Übrigens… falls jemand mir die beiden Geschichten erklären kann, wäre ich sehr dankbar. Ich habe immer wieder darüber nachgedacht und bin zum Schluss gekommen, dass ich entweder zu dumm bin, sie zu verstehen, oder aber dass sie einem kranken Hirn entsprungen sind.


Hellinger-Fall 2


Ein Hellinger-Jünger erzählte mir voller Ehrfurcht vor dem Meister die folgende Episode:
Eine Psychotherapeutin bittet um eine Supervisions-Aufstellung. Sie betreut eine Klientin, die Probleme mit ihrem Mann hat. Die Therapeutin beschreibt, wie gemein sich dieser Mann ihrer Klientin gegenüber benimmt. Hellinger unterbricht, stellt den Mann, die Frau und die Therapeutin auf, und sagt sinngemäß: „Du bist die falsche Therapeutin. Du machst die Probleme nur noch schlimmer.“

Das kann ja durchaus sein. Aber muss man das so formulieren, vor 500 Zuschauern? Könnte man das nicht so ausdrücken, dass die Therapeutin ihr Gesicht wahren kann? Zum Beispiel so: „Ich weiß nicht, ob Du damit etwas anfangen kannst, aber die Aufstellung deutet darauf hin, dass Du da irgendwie in Resonanz stehst, also nicht so neutral bleiben kannst, wie es für Dich als Therapeutin gut wäre. Was sagst Du dazu?“
Ich bin sicher, die Therapeutin hätte das nicht kategorisch abgelehnt, und dann hätte man ihr anbieten können, in ihrem Familiensystem nach dem Thema „Verachtung der Männer“ zu suchen.


Hellinger-Fall 3


Das ist der wohl berühmteste dokumentierte Fall, und er schlägt dem Fass wirklich den Boden aus.

Ein getrennt lebendes Paar möchte klären, bei wem von ihnen die vier Kinder besser aufgehoben sind. Der Mann stellt auf, seine Frau ist mit auf der Bühne. Hellinger schaut sich die Aufstellung an und deutet auf den Mann: „Dort sitzt die Liebe“, und zur Frau gewandt: „Und hier sitzt das kalte Herz!“ Zum Publikum sagt er: „Die Kinder sind bei der Frau nicht sicher. Sie gehören zum Mann.“ Und dann: „Die Frau geht. Die kann keiner mehr aufhalten. Das kann auch Sterben bedeuten.“
Wortlos verlässt die Klientin den Saal. Für die Zeit nach dem Seminar hatte die junge Ärztin bereits einen Umzug geplant und sich für medizinische Weiterbildungskurse angemeldet. Einen Tag nach der Aufstellung mit Bert Hellinger nimmt sie sich das Leben. In ihrem Abschiedsbrief an die Familie schreibt sie: „Vielleicht gibt es Menschen, die so viel Schuld auf sich laden, dass sie kein Recht mehr haben zu leben. Und wenn es für die Kinder die Ordnung herstellt, will ich meinen Teil dazu tun, auch wenn es nicht das ist, was ich mir wünsche.“

Sechs Jahre später sagt Bert Hellinger im Interview: „Ein Therapeut kann niemandem schaden.“ Lächelnd fügt er hinzu: „Außer, der andere will das haben.“


Hellinger-Marotte Nr. 4 –
Leute in den Tod schicken

Eine junge Frau erzählt, sie sei depressiv. „Was ist passiert in der Familie?“ – „Mein Papa ist Palästinenser. Als ich ein Jahr alt war, sind wir nach Deutschland gezogen.“ Mehr will Hellinger nicht wissen. In der Aufstellung steht die Klientin ihrem „Vater“ gegenüber. In gemessenem Abstand, drei Meter entfernt. Hellinger stellt zwei weitere Männer dazu, Stellvertreter für ihre Heimat Palästina.
Regungslos starrt die junge Frau in Richtung des „Vaters“. Minutenlang.
Dann spricht Hellinger sie an. „Sag deinem Vater: ,Ich geh zurück!‘“ Hellinger will die junge Frau zurück nach Palästina schicken, in die „schicksalsbestimmte Heimat“, die sie als einjähriges Kind verließ. Mühsam bringt die Patientin die Worte über die Lippen: „Ich geh zurück!“ Dann steht sie weiter wie angewurzelt da, bis Hellinger sie ermuntert: „Geh‘!“ Sie sieht den Therapeuten fragend an. „Zurück!“ Keine Reaktion, nichts.
„Also, sie schafft das nicht!“, verkündet Hellinger dem Publikum. „Depression und Manie sind einfacher. Aber das Leben ist dort, in Palästina“. Lächelnd wendet er sich an die Klientin: „Ich will dir was sagen, ja? Ob du dort stirbst oder dich hier umbringst, ist kein großer Unterschied.“ Damit ist die Frau entlassen.

(ZEIT online, 21.8.2003)

Hellinger-Marotte Nr. 5 –
Lösungen anbieten, die keine sind

Im Herbst 2011 besuchte ich mit ein paar meiner Studenten zusammen ein systemisches Seminar bei einem bekannten Buchautor und ehemaligen Hellinger-Vertrauten. Leider stellte sich heraus, dass dieser Mann vor allem die negativen Seiten von Hellinger übernommen hatte:

Eine Frau klagte darüber, dass sie ein schlechtes Verhältnis zu ihrer älteren Schwester habe. Sie könne tun, was sie wolle, es sei einfach nie recht. Jetzt habe sie seit einiger Zeit keinen Kontakt mehr, weil es sie zu sehr aufwühle. Aber es lasse ihr keine Ruhe, denn schließlich sei sie ihre Schwester.
Das genügt dem Moderator auch schon. In seinen Cowboystiefeln salopp im Stuhl fläzend, sagt er in bekannter Hellingerscher Diktion: „Ich sag‘ Dir, was die Lösung ist, ja? Du fährst zu dieser Schwester hin und umarmst sie.“

Ja, super! Dann wissen wir Therapeuten doch jetzt, was wir zum nächsten Gondelbahn-Phobiker sagen, der uns unterkommt, oder? Du gehst jetzt zur nächsten Gondelbahn und fährst auf den Berg! Und wenn der das nicht kann, greift Marotte Nr. 6…

Hellinger-Marotte Nr. 6 –
dem Klienten unterstellen, dass er die Lösung nicht will

Probleme verbinden – Lösungen machen einsam.“
So ähnlich lautet eine von Hellingers Aussagen. So ganz daneben ist sie natürlich nicht. Gemeinsam über Probleme zu jammern, bringt vielen Menschen das ersehnte Zugehörigkeitsgefühl. Aber den Klienten in einem systemischen Seminar zu unterstellen, dass sie die Lösung nicht wollen, ist eine Frechheit. Warum stellt man sich dann als Therapeut zur Verfügung, wenn man von vornherein weiß, dass der Klient an einer Lösung gar nicht interessiert ist?

Ein Hellinger-Schüler, dem ich einmal beim Moderieren zusah, überforderte einen Klienten mit der so genannten „Lösung“ total, und auch ich begriff nicht, was das für ein Lösungsbild sein sollte. Der Moderator meinte nur, er sei nicht auf die Lösung angewiesen und auch nicht darauf, dass der Klient sie annehmen könne. Da hat er dem Meister gut auf die Finger geschaut!
Könnte es nicht auch sein, dass viele Klienten intelligent genug sind, solche Pseudo-Lösungen nicht zu wollen?

Hellinger-Marotte Nr. 7 –
Menschen bloßstellen

Von dieser Marotte haben wir ja schon etliche Kostproben bekommen. Ein Beispiel, wie diese Marotten auch auf Hellingers Schüler abfärben, habe ich persönlich erlebt. Einem Klienten, dem ganz offensichtlich echte männliche Energie fehlte, und der sich infolgedessen immer etwas aufplustern musste, sagte der Moderator: „Bist du bereit für die Lösung, auch wenn ich dir dazu die Luft rauslassen muss?“
Dem Mann blieb nichts anderes übrig als zu antworten: „Ich weiß zwar nicht, was du damit meinst, aber ja, ich bin bereit.“
Nachdem der Klient mit dem unverständlichen Lösungsbild nichts anfangen konnte, arbeitete ich mit seiner männlichen Ahnenlinie, wie ich es in meinem Buch „Ich achte dein Schicksal“ beschreibe. Da rannen dem Mann, von dem niemand gedacht hätte, dass er öffentlich weinen würde, die Tränen herunter, und er meinte, zum ersten Mal verstünde er, was echte männliche Energie sei.

Hellinger-Marotte Nr. 8 –
die Menschen einteilen in solche, die bereit sind
und solche, die es nicht sind

Mike Hellwig schreibt über seine Erfahrungen mit Hellinger:
Zunächst einmal möchte ich Ihnen schildern, unter welchen Rahmenbedingungen man überhaupt mit Hellinger arbeitet. Es war ausgesprochen schwierig, zu Hellinger vorzudringen. Es hieß damals, Hellinger würde sein letztes Seminar in Deutschland geben, er ist ja um die achtzig. Von den etwa 1000 Teilnehmern hatten 500 den Wunsch, wie ich, mit Hellinger zu arbeiten. Zwanzig davon sollten drankommen. Irgendwie gelang es mir, mich unter die wenigen Auserwählten auf die Bühne hochzuarbeiten.

Währenddessen bekam ich aber einen Geschmack davon, wie Hellinger mit einem umgehen kann: „Mit dir arbeite ich nicht!“ Zack. „Du achtest mich nicht! Du kannst gehen!“ Peng. Dabei hatten sie gerade einmal zwei, drei Worte gesagt – sie verstanden gar nicht, dass es schon vorbei sein sollte – Helfer mussten sie von der Bühne führen. An Hellinger, diesem Fels in der Mitte der Bühne, schien jede Anfechtung abzubranden.
Schließlich waren wir noch fünf, ich saß ganz außen, eine ungünstige Position. „Mit einem arbeite ich noch! Wer will?“ Dann schossen die Hände duellartig hoch, manche schnipsten sogar wirklich mit den Fingern, wie in der Schule. Die Leute neben mir bogen sich so weit nach vorne, dass mein Sichtkontakt zu Hellinger abriss. Der konnte mich eigentlich gar nicht mehr auswählen. Das war der Moment, wo ich aufgab. Mir war das ganze zu dumm und ehrlich gesagt, zu demütigend. Außerdem saßen da unten, unter den Zuschauern, auch Leute, die zu meinen Kursen kamen. Und da war auch eine Kamera, die gnadenlos alles filmte. Wenn ich mir vorstellte, Hellinger würde mich fertigmachen und später könnte das jeder auf Video kaufen, im Grunde war das Ganze viel zu riskant für mich…
Dann sagte Hellinger: „Mit den Eifrigen arbeite ich gar nicht erst! Aber mit dir!“ Und zeigte auf mich.

Das hört sich ja nicht gerade angenehm an. Kann man sich unter solchen Bedingungen überhaupt auf so eine Arbeit einlassen? Wie ging es weiter?

Im Saal gab es jedenfalls keinen Mucks mehr, als ich mich neben Hellinger setzte. Und Hellinger sagte auch nichts. Es vergingen Minuten, endlos lange Minuten, in denen ich da saß und das Surren der Scheinwerfer hörte. Schweißtropfen liefen mir die Schläfen hinunter, während ich mich ermahnte, bloß nicht als erster zu sprechen. Ich dachte, sonst sagt Hellinger: „Du bist noch nicht so weit! Kannst gehen!“

„Was ist es bei dir?“ Hellinger hatte dann tatsächlich doch noch gesprochen. Okay, dachte ich dann, trotz aller Bedenken, wenn ich schon mit ihm arbeiten darf, dann auch richtig: „Anfälle von Todesangst!“ In der Tat war das ein Symptom, dass sich bei mir entwickelt hatte, seitdem ich Familienstellen machte. „Aha!“ sagte Hellinger und schaute mich durch die riesigen Brillengläser an. Mein Vater hatte auch immer eine Brille getragen. Tatsächlich fühlte ich mich, als ob ich wieder vier war und Angst vor meinem unberechenbaren Vater hatte.

„Die Todesangst gehört nicht dir. Du kannst sie tragen, deswegen hast du sie!“ „Gehe nach innen“, fuhr er fort, „zu demjenigen, dem es gehört, und sage: ich trage es für dich! Bei mir ist es sicher.“ Ich schloss die Augen, fragte nach Innen: Hallo, ist da jemand? Keine Ahnung, ob da jemand war. Jedenfalls sagte ich, was Hellinger mir aufgetragen hatte. Als ich meine Augen wieder öffnete, hörte ich: „Das ist dein Schicksal!“ Damit war ich entlassen.

(Quelle: therapieforschung.eu/familienstellen/hellinger-hellwig.html; der Artikel ist leider nicht mehr verfügbar)


So ähnlich habe ich das auch bei Hellinger-Schülern erlebt. „Ein Anliegen, das nicht mit der nötigen Ruhe vorgetragen wird, hat zu wenig Kraft“ lautet etwa die Anweisung eines systemischen Ausbilders.

Blödsinn, sage ich. Wenn einer nervös und fahrig sein Anliegen vorträgt, kann genau das ein Teil seines Problems sein. Ihm fehlt die Orientierung, er spürt die Wurzeln nicht. Wenn ich dann zu ihm sage „Dein Anliegen hat zu wenig Kraft, Du bist noch nicht so weit, mit Dir arbeite ich nicht“, dann habe ich ihn gerade retraumatisiert. Und das müsste eigentlich strafbar sein.